Vor 70 Jahren, am 19. September 1945, gründete die amerikanische Militärregierung das Land «Württemberg-Baden». Damals bestimmte die Flüchtlingsaufnahme die Landespolitik. Wer in seinem Haus keine Menschen aufnehmen wollte, musste mit Gefängnis rechnen.

Die Menschen waren von Hunger, Erschöpfung und Resignation gezeichnet. Vor allem 1946 kamen in Folge des Zweiten Weltkriegs innerhalb von wenigen Wochen Hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene in den Norden von Baden-Württemberg. Mit langen Zügen wurden meist ältere Menschen und Frauen mit Kindern in Viehwaggons vom Sudetenland und Ungarn tagelang nach «Württemberg-Baden» transportiert. Angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise – und eines Jubiläums – werden Erinnerungen wach.

Die US-Militärregierung hatte am 19. September 1945 das neue Land in Nordwürttemberg und Nordbaden per Dekret in ihrer Besatzungszone ins Leben gerufen. Hauptstadt wurde Stuttgart. Nach den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz mussten im neuen Land deutsche Vertriebene vor allem aus der Tschechoslowakei und Ungarn aufgenommen werden. Die Franzosen nahmen in ihren Besatzungszonen in Württemberg-Hohenzollern und Südbaden zuerst keine Flüchtlinge auf. Das änderte sich später.

Bis 1950 zählte man im Südwesten schon eine Million aufgenommene Menschen. Im 1952 gegründeten Bundesland Baden-Württemberg stieg die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge dann bis zum Jahr 1961 auf 1,6 Millionen. “Jeder fünfte Baden-Württemberger war also ein Neubürger”, sagt die Historikerin Sabrina Müller vom Stuttgarter Haus der Geschichte. Schon 1945 mussten die Kommunen in “Württemberg-Baden” Listen über jedes Haus anlegen und feststellen, wo es Wohnraum-Leerstände gab.

Auf Geheiß der Besatzungsmächte war mit einem Schlüssel von zwei Personen pro Wohnraum jeder weitere Wohnraum an Flüchtlinge abzugeben. Die Konflikte waren deshalb enorm, die Flüchtlinge nicht willkommen und dass sie Deutsche oder Deutschstämmige waren, half ihnen wenig. “Flüchtling” war in der Nachkriegszeit ein Schimpfwort, sagt die Geschichtsprofessorin Silvia Schraut von der Münchner Bundeswehr-Universität.

Bei der Flüchtlingsaufnahme gab es Gemeinsamkeiten und gewaltige Unterschiede zur aktuellen Situation: Bei der wenige Tage dauernden Erstaufnahme nutzte die Landesverwaltung ehemalige NS-Einrichtungen, Kasernen und SS-Lager in der Nähe von Bahnhöfen im ganzen Land. Dort wurden die Menschen registriert, entlaust und medizinisch versorgt. Danach verteilte man die Flüchtlinge sofort auf umliegende Städte und Gemeinden, gemeinsam vertriebene Dorfgemeinschaften wurden getrennt.

Vor Ort wurden die Menschen dann in privatem Wohnraum, in Gasthäusern, Schulen und Turnhallen einquartiert. Außen vor blieb niemand: Wer sich gegen die Zwangseinquartierungen wehrte, musste damit rechnen, dass die US-Militärpolizei die Hausbesitzer für mehrere Tage ins Gefängnis brachte.

Dies bedeutete in transportreichen Monaten wie etwa im Juli 1946 die Ankunft von täglich durchschnittlich 768 Personen in Nordbaden und 1.106 Personen in Nordwürttemberg. Sie alle waren in Erstlagern aufzunehmen, schnellstens in Zwischenlager und privaten Wohnraum zu verteilen und zu versorgen.

Die Einheimischen hießen sie keineswegs freudig willkommen», sagt Silvia Schraut. Viele Einheimische und auch Vertriebene hofften zuerst auf eine baldige Rückkehr der Flüchtlinge in ihre alte Heimat, was aber nicht passierte. Vereine und die Wirtschaft profitierten in der Folge von vielen Impulsen, die Vertriebene gaben. Beim Sport und am Arbeitsplatz entwickelten sich viele Freundschaften.

Politisch war das neue Bundesland, das vor 70 Jahren gegründet wurde, stabil. Zum Ministerpräsidenten wurde der liberale Politiker Reinhold Maier (1889-1971) von der DVP (später FDP) ernannt, der nach zwei folgenden Landtagswahlen bis zur Gründung von Baden-Württemberg regieren sollte und dann noch ein Jahr Ministerpräsident des 1952 gegründeten Südweststaats war.

In den ersten Monaten vor 70 Jahren musste auch der Wiederaufbau der Verwaltung, die Versorgung der Bevölkerung, die Entnazifizierung und der wirtschaftliche Wiederaufbau angegangen werden. “Eine wichtige politische Rolle spielten die Vertriebenen dann bei der Abstimmung über den Südweststaat im Dezember 1951”, sagt Sabrina Müller: “Es ist wohl ihren Stimmen im Abstimmungsbezirk Nordbaden zu verdanken, dass das neue Bundesland Baden-Württemberg gegründet wurde”.

Von Christian Jung, dpa
(Mit freundlicher Genehmigung der dpa)

Nach dem Zweiten Weltkrieg strömten Flüchtlinge in den Südwesten